Nein, das ist nicht mehr «mein» Hong Kong, wie ich es vor fast 50 Jahren erlebt habe, als ich 1964 an Bord des Stückgutfrachters MS Basilea zum ersten Mal in den Victoria Harbour einlief. Schon damals war ich zwar beeindruckt von der Mächtigkeit der Stadt, ihren «Hochhäusern», dem Menschengewimmel. Aber im Vergleich zu der heutigen Wolkenkratzer-Silhouette waren das «Häuschen», wie das Bild von 1964 zeigt. Die Foto von 1964 wurde vom Victoria Peak aus geschossen, von der gleichen Stelle wie jene aus dem Jahr 2013. Heute sind die Türme so in den Himmel gewachsen, dass sie schon fast die Höhe der Aussichtsplattform des Peak erreicht haben..., unfassbar!
Aber nicht nur Hong Kong hat sich in 50 Jahren verändert, auch meine Lebenssituation. War ich damals als Küchenjunge auf dem Schiff tätig, so reise ich diesmal in reinstem Luxus. Auf unserer MS Silvershadow gibt es keine normalen Kabinen, sondern bloss Suiten. Und jeder Suite ist ein Butler zugeteilt. Nicht, dass wir den wirklich nötig hätten, aber die «Beste Cruise Line der Welt», die Silversea, will das so...
25. November 2013
Mit den ersten Sonnenstrahlen (nach acht Tagen erstmals wieder blauer Himmel!) laufen wir um 06.30 h in die Strasse von Hong Kong ein, rechts Kowloon, links die Insel Hong Kong. Da wir eine Kabine auf der Backbordseite haben, können wir vom Balkon aus die beeindruckende Silhouette von HK bewundern, die im zarten Morgenlicht erstrahlt. Irgendwie unwirklich, was die Menschen hier hingestellt haben, fast schockierend! Die Glastürme der Banken und Grossfirmen, die die endlos in den Himmel gewachsenen Wohnsilos noch übertrumpfen, und alles so dicht gedrängt, dass kein Stückchen Natur mehr zu sehen ist.
Als ich vor rund 50 Jahren zum ersten Mal hier war (1964 als Messboy auf einem kleinen Stückgutfrachter der Schweizer Reederei), da gab es noch Hunderte oder Tausende von Dschunken im Victoria Harbour, Fischerboote, Wohnboote und Transportkähne. Und überhaupt spielte sich alles auf dem Wasser ab, so zum Beispiel auch das Löschen unserer damaligen Fracht: 600 Wasserbüffel, die wir von Bangkok nach HK transportierten, für den Schlachthof bestimmt. Heute spielt sich auf dem Wasser nicht mehr viel ab – die paar Dschunken sind Kopien für Touristen, und die Fähren zwischen Kowloon und der Insel HK sind zur Folklore verkommen, denn ein Autotunnel und vor allem die U-Bahn MTR bewältigen die Hauptarbeit, Millionen von Menschen rasch und zuverlässig hin und her zu verschieben. MTR steht sinnigerweise für «Mass Transport Railway».
Die Ausschiffung von der MS Silvershadow verläuft stresslos, alles ist glänzend organisiert, und nach einem letzten Frühstück an Bord sind wir um zehn Uhr bereits im Taxi unterwegs zu unserem Fünfsternehotel «Harbour Grand Kowloon». Es entpuppt sich als eines dieser modernen blau-grünen Glasgiganten an exklusiver Lage direkt am Hafen, auf neu aufgeschüttetem Grund übrigens. Vornehmes Entrée mit Marmortreppe und so, alles vom Feinsten. Und endlich wieder grosse Betten, was für ein Genuss! Von unserem komfortablen Zimmer im 16. Stock (mit 2 Kingsizebetten, Wohnecke und freistehendem Schreibpult vor dem Panoramafenster) blicken wir in südöstliche Richtung auf die Insel Hong Kong mit ihrer grossartigen Silhouette. Und zudem werden wir täglich den Sonnenaufgang geniessen können – eine traumhafte Aussicht für die nächsten 6 Tage.
Schon am ersten Tag machen wir uns auf den Weg und beginnen mit der Südspitze von Kowloon, ein Muss für alle Besucher. Dort, wo früher mal der Clock Tower und das Pier der Fähren die Attraktionen waren (immerhin gibt es beides noch), warten jetzt ein futuristisch gestaltetes Space-Museum und ein Design-Kulturzentrum auf die Touristen. Und dann natürlich die wunderschöne Uferpromenade mit der «Avenue of Stars», wo ungezählte Filmgrössen auf dem Asphalt verewigt sind. Hauptsächlich Stars aus dem asiatischen Raum, von denen wir keinen kennen – ausser Jackie Chan, Liebling der Chinesinnen. Eine Verehrerin trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift «Jackie Chan, my Homeboy». Und nirgends auf der Avenue of Stars ist der Menschenauflauf grösser als bei seiner Bronze-Plastik, die ihn natürlich in dynamisch-kämpferischer Pose zeigt. Wie denn sonst.
26. November
Im Südwesten der Insel Hong Kong liegt Aberdeen, wo eine besondere Attraktion wartet: Der Fischerhafen mit seinen illustren Wohnbooten. Diese lagen früher auch im Victoria Harbour, aber das ist lange her. So gesehen ist die schwimmende Stadt von Aberdeen ein Stück Romantik, eine Zeitreise in die Vergangenheit. Es sollen hier noch etwa 5'000 Familien auf dem Wasser leben. Wir tuckern in einer alten Dschunke durch den Hafen – gesteuert von einer freundlichen, zahnlosen Lady – und geniessen die bunte Vielfalt von Kähnen und Booten. Was für ein Kontrast zu den Wolkenkratzern und Bürotürmen!
Der blaue Himmel animiert uns, gleich auch noch den Besuch zum berühmtesten Ausssichtspunkt Hong Kongs anzupacken, des Peak (der früher Victoria Peak genannt wurde, doch das neue Hong Kong verabschiedet sich immer mehr von jenem unter britischer Herrschaft, und da hat die ehemalige englische Königin auf längere Sicht schlechte Karten). Mit dem Bus fahren wir zur Peak Tram Station, die es schon seit 1885 gibt. Wie viele Millionen Besucher diese wohl schon benutzt haben? Als wir ankommen, treffen wir bereits auf eine unüberblickbare Menschenmenge. Wir stellen uns in die Schlange, die weit vor dem Gebäude schon beginnt und warten geduldig wie die Chinesen. Die sind sich das gewöhnt, denn Schlangen gibt es überall, und Anstehen ist völlig normal, nicht nur beim Peak Tram. Nur: Je länger wir warten, desto grauer wird der einst blaue Himmel, und als wir schliesslich an der Reihe sind, steckt alles im Nebel. Natürlich fahren wir trotzdem hoch, müssen dann aber feststellen, dass wir von der Insel unter uns und von Kowloon, dem Festland, nicht mehr viel erkennen können. Aber was ich noch gut sehen kann: Der Unterschied zum Ausblick 1964, als ich zum ersten Mal hier oben stand! Damals gab es «weit unten» ein paar Häuser. Inzwischen sind die Wolkenkratzer nicht nur doppelt und dreifach so hoch geworden, sondern auch immer näher an den Berg ran gebaut worden, sodass es gar kein eigentliches «Runterschauen» mehr gibt, die Türme erscheinen vielmehr auf Augenhöhe zum Ausssichtspunkt, unfassbar, diese Entwicklung. Mit der U-Bahn (MTR) fahren wir unter dem Victoria Harbour zurück zu unserem Hotel in Kowloon.
27. November
Heute bleiben wir auf dem Festland in Kowloon und begeben uns in ein Quartier, wo pures China zu sehen und zu fühlen ist: MongKok. Der Shanghai Street entlang und in ihren Nebenstrassen ziehen wir all die Eindrücke rein, die dieses bunte und lebhafte Quartier bietet, es ist eine der ältesten rein chinesischen Siedlungen, sozusagen ein Hong Kong der alten Tage. Es soll eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt sein, mit angeblich 20'000 Einwohnern pro km2 (ganz Hong Kong 6'400 E/km2). Man mag es glauben, wenn man in diesen Menschenmassen drin steckt. Wer an Platzangst leidet, meidet das Gebiet wohl besser. In diesem Getümmel befindet sich auch der berühmte «Ladies Market», der eine ganze Strasse in Anspruch nimmt, auf der sich Zeltläden dich gedrängt aufgebaut haben. Das Warenangebot ist ebenso überwältigend wie unüberblickbar, und es gibt wohl nichts, was es nicht zu kaufen gäbe.
28. November
Ein düsterer, nebliger Tag. Ideal für einen Museumsbesuch. Im Museum of History lassen wir uns in frühere Zeiten versetzen. Es ist sehr schön aufgebaut und vor allem für Schüler hoch interessant, denn es operiert nicht bloss mit Jahreszahlen, sondern zeigt in 3D-Aufbauten und Videoshows die ganze Entstehungsgeschichte von Hong Kong, auch erdgeschichtlich, bis zurück vor 100 Millionen Jahre. So genau wollen wir es aber nicht wissen, wir konzentrierten uns auf die Zeit nach 1841, als die Briten die Insel in Besitz nahmen. Das geschah im Anschluss an den ersten Opiumkrieg, den die Engländer gegen die Chinesen gewannen, – und dabei gleich die Insel für die britische Krone besetzten. Immerhin waren aber die Beziehungen der beiden Länder so gut, dass es später zu einem Vertrag reichte, der den Engländern das Recht gab, hier in Gratispacht eine Kronkolonie zu betreiben.
Dieser Vertrag lief bis 1997. Danach ging Hong Kong definitiv an China über... oder doch nicht ganz. Zwar gehört das Land jetzt China, aber die Briten erreichten noch, dass sie mindestens bis 2047 ihre Geschäfte unter einem Sonderstatus weiter betreiben dürfen. Der Sonderstatus ist eine Erfolgsgeschichte, denn Hong Kong wächst und wächst und wächst – und zeigt dem kommunistischen China gleichzeitig, wie freie Marktwirtschaft läuft, es ist gewissermassen ein Testgelände für Kapitalismus im eigenen sozialistischen System. Ich würde zu gerne wissen, welches System sich bei der definitiven Übergabe an China im Jahr 2047 durchgesetzt haben wird... aber dafür müsste ich noch weitere 34 Jahre leben, – etwas gar lang und doch eher unwahrscheinlich.
29. November
Ein Prachtstag mit blauem Himmel. Zwar ziemlich kühl, nur noch etwa 15 Grad, aber an der Sonne doch sehr angenehm. Wir nutzen das schöne Wetter für einen Ausflug auf die Insel LanTau zum PoLin-Kloster mit seiner berühmten 26 Meter hohen Buddhafigur, die man angeblich schon im Landeanflug vom Flugzeug aus sehen kann (wir erlebten das nicht, denn wir kamen ja per Schiff).
Die Anreise von Kowloon ist denkbar einfach: Zuerst mit dem blitzschnellen MTR bis TungChung auf LanTau, dann per Seilbahn zum PoLin-Kloster (naja, so schnell gings dann doch nicht, denn inzwischen war wieder mal eine gute Stunde fürs Schlangenstehen angesagt, aber das kannten wir ja bereits). Das Anstehen lohnt sich aber, denn die Gondelfahrt ist sehr attraktiv. Rechterhand sieht man auf den Flughafen ChekLapKok, der 1990 sprichwörtlich aus dem Boden gestampft wurde: Man trug die Insel ChekLapKok komplett ab und ebnete sie ein, um darauf die Flugpiste zu errichten. Das geschah noch während der Herrschaft der Briten.
Mit der Gondelbahn gehts hoch – über die total grüne Insel LanTau, die übrigens doppelt so gross ist wie Hong Kong selbst – bis zum Kloster PoLin, und dort ist natürlich der 26 Meter hohe Riesenbuddha die Attraktion, zu dem man in 260 Stufen gelangt. Chinesische Geschäftstüchtigkeit und Religion vermischen sich auf wundersame Weise: Offenbar ist es nicht angebracht, für den Besuch einer Buddhastatue Geld zu verlangen, also verkauft man so genannte «Meal Tickets»: Man bezahlt für einen Tee oder für einen Imbiss und darf dann die 260 Stufen hochklettern. Und allen ist gedient und Buddha darf weiter lächeln. Und die Menschenmassen, mit denen zusammen wir an der Talstation anstanden, sind plötzlich verschwunden. Das Klostergelände ist so weitläufig, dass man sich endlich mal wieder frei bewegen kann. Bloss ganz oben, beim Buddha, der inzwischen zum Wahrzeichen der Insel LanTau geworden ist, da drängen sich die Leute dann wieder.
30. November
Letzter Tag in Hong Kong. Wir gehen es gemütlich an und planen keine grossen Ausflüge mehr. Dafür lassen wir die Eindrücke des Victoria Harbours und der vielen jungen Menschen, die im südlichen Kowloon und auf der «Avenue of Stars» unterwegs sind, nochmals auf uns einwirken und geniessen den Sonnenuntergang vor Hong Kongs Wolkenkratzersilhouette. Ein würdiger letzter Tag, bevor wir um Mitternacht unsere Maschine nach Zürich besteigen: 12 Stunden Flug liegen vor uns.
Nachtrag
Alles ist im Fluss, alles verändert sich. Bei all meinen Reisen über die vergangenen Jahrzehnte war es stets so, dass ich mich beim Nachhausekommen daran erfreuen konnte, dass «bei uns» alles so sauber ist und alles funktioniert. Und nun das. Sowohl in Singapur als auch in Hong Kong funktioniert alles noch ein bisschen besser und raffinierter – dank modernster Technologie, die überall angewendet wird. Die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ist ein Vergnügen (wenn man mal davon absieht, dass die ungeheuren Menschenmassen etwas gewöhnungsbedürftig sind). Aber die Leistungsfähigkeit der U-Bahn (MTR) ist beeindruckend, die Häufigkeit der Züge, die vorbildliche Beschriftung und Kommunikation (immer ist man informiert, wie viele Minuten es noch dauert, bis der nächste Zug kommt). Und dann das Ticketsystem, der absolute Hammer. Man kauft sich eine so genannte Octopus-Karte, die man mit einem beliebigen Betrag in HongKong-Dollars aufladen kann. Und jedesmal, wenn man einen Zug benützt (gilt auch für Busse, Trams, Bahn), hält man die Karte – die man nicht mal aus dem Portemonnaie zu nehmen braucht – einfach auf einen Sensor, und der bucht dann den Betrag ab. Und gleichzeitig leuchtet der Restbetrag auf, der noch auf der Karte übrig bleibt. Da gibt es kein Anstehen nach Tickets, jeder rauscht einfach durch die Schranke, und schwupps, ist die Fahrt bezahlt.
Oder wenn man über die Strasse will und die Ampel auf Rot steht. Da wartet man nicht endlos auf gut Glück, bis es endlich grün wird, sondern wird akustisch geführt. Ein Ticken zeigt an, dass die Fussgänger dran sind, und die Endphase wird durch schnelles Ticken angekündigt. In Singapur werden sogar die Sekunden angezeigt, wie lange man noch rot oder grün hat.
Und was wir schon in Singapur festgestellt haben, gilt auch für das moderne Hong Kong: Die Strassen und Plätze sind erstaunlich sauber, viel sauberer als bei uns! Rauchen ist fast überall verboten, und die Leute halten sich daran. Wer mal rauchen will, der tut das, indem er sich an einen der Abfallkübel stellt. Man raucht seine Zigarette dort stehend und wirft den Zigarettenstummel nicht auf die Strasse, wie das bei uns «normal» ist, sondern drückt sie aus und entsorgt sie im Kübel. Auf den Strassen liegen keine Kaugummis und keine Kippen, und die bei uns die Strassen und Trams verunstaltenden weggeworfenen (Gratis)-Zeitungen gibt es auch nicht. Eine Wohltat.
In allen Verkehrsmitteln ist Essen und Trinken verboten, Rauchen sowieso. Und jeder hält sich an diese Verbote. Wieso ist das bei uns in Zürich nicht möglich? Da steigen Leute mit ihren Fastfood-Plastikbehältern ins Tram und verpesten mit Döner und Zwiebeln die ganze Luft, und lassen womöglich das leere Geschirr auf dem Sitz liegen – jemand anders soll ihren Dreck wegräumen. Wie lange wollen wir das noch akzeptieren?
Auch hier stellt sich die Frage (die wir uns schon in Singapur gestellt haben): Wie ist das möglich geworden, dass sich die Leute in Singapur und Hong Kong so diszipliniert an die Gesetze und Verbote halten? Noch vor Jahren (besser wohl: Jahrzehnten) herrschte hier das Chaos, und jetzt das... es ist unfassbar!
Übrigens: Wir lasen vor unserer Reise immer wieder Berichte, wie rücksichtslos in asiatischen Grossstädten die Leute – besonders die Chinesen – seien, wenn sie in Bahnen, Trams und U-Bahnen einsteigen, wie da geschubst und gedrückt werde. Keine Spur von alledem! Die Leute verhalten sich sehr diszipliniert, sie stehen Schlange und warten geduldig, bis sie an der Reihe sind, sie sind höflich und wohlerzogen. Die jungen Leute ganz besonders. Und von den jungen gibt es eine ganze Menge, es ist ein millionenfaches Versprechen für die Zukunft.
Fritz Kleisli, Dezember 2013