>Fotogalerie Machu Picchu, Ollontaytambo
Machu Picchu. Der Name vergeht mir auf der Zunge. Und der Platz ist noch atemberaubender als ich es mir aufgrund der Fotos zuhause vorgestellt hatte. Da stehen mehrere «Zuckerhüte» nebeneinander, und einer davon scheint geköpft worden zu sein, damit man ein gewaltiges Bauwerk draufstellen konnte. Bezüglich «Bauwerk» drücke ich mich deshalb so vorsichtig aus, weil bis heute niemand sicher weiss, für wen oder für was es diente.
Mein Geschichts-Lexikon spricht von einer Festung, mit der die Inkas ihr Reich abgesichert hätten. Nur: Was soll es für einen Sinn machen, da oben eine Festung zu bewachen, wenn ganz weit unten im Tal, wo man schon längst keinen Zugriff mehr hat, jedermann mit einer ganzen Armee durchmarschieren und das Land einnehmen kann? Wars vielleicht eine Art Kloster? Ein Sonnentempel? Oder ganz einfach eine hübsche Sommerresidenz des Inkas? Warum auch nicht! Andere Herrscher haben sich ihre Paläste auch an den imponierendsten Stellen errichten lassen.
Sicher ist, dass die Inkas weltweit einen sagenhaften Ruf haben, heute noch. Die letzte Video-Dokumentation, die ich über dieses Andenvolk gesehen habe, formuliert das so:
«Das Reich der Inkas ist der Inbegriff für Ruhm und Reichtum, für meisterliche Bauwerke, beeindruckende Goldarbeiten und eine unglaublich hochentwickelte Zivilisation».
Und nun stehe ich hier in Machu Picchu und lasse alles auf mich einwirken. Nur komisch, jetzt, wo ich hier bin, überfallen mich plötzlich Zweifel. Mir fällt vieles auf, was ich früher nicht realisiert hatte. Meine Zweifel an der Tüchtigkeit der Inkas haben primär damit zu tun, dass ich nicht begreifen kann, wie sich ein angeblich so hochentwickeltes Volk mit einer Riesenarmee von ein paar dahergelaufenen spanischen Sträflingen dermassen übers Ohr hauen lässt, dass schliesslich ihr ganzes Reich untergeht. Aber genau so passierte es, als sich 1532 Francisco Pizarro anschickte, Peru zu erobern.
Die Fakten sind geschichtlich belegt: Pizarro und seine rund 200 Mann gingen im Norden Perus (bei Tumbes) an Land und marschierten Richtung Inka-Hauptstadt Cuzco, nahmen auf halbem Weg dorthin den amtierenden Inka (Atahualpa) fest und brachten ihn schliesslich um, nachdem er den Spaniern noch freiwillig den Goldschatz seines ganzen Reiches ausgehändigt hatte, und zwar auf das Versprechen der Spanier hin, sie würden dann sein Leben verschonen.
Gehen wir mal davon aus, der Inka Atahualpa sei ziemlich blauäugig gewesen und – etwas boshafter formuliert – nicht gerade der Schlauste aller Könige, und deshalb sei er eben von den Spaniern über den Tisch gezogen worden. Das hätte doch noch lange nicht das Ende des ganzen Inkavolkes und des gesamten Reiches bedeuten müssen!
Spätestens mit seiner Ermordung hätten seine Nachfolger merken müssen, dass die Spanier nur hierher gekommen waren, um das Land auszuplündern und die Macht an sich zu reissen. Und es wäre noch längst Zeit gewesen, die paar Hundert Fremden aus dem Land zu jagen oder umzubringen. Die Bücher, die ich gelesen habe, finden es allerdings normal, dass die Inkas so wehrlos waren. Das klingt dann etwa so: «Er musste zusehen, wie fremde, bärtige Ritter, ausgerüstet mit Pferden und Feuerwaffen, in einer einzigen Nacht mehrere Tausend seiner tapfersten Krieger töteten...».
Wenn ich das nur schon höre, sträuben sich meine Nackenhaare, und ich balle die Faust. Dabei betrifft es nicht mein eigenes Volk, sondern «nur» das der Inkas. Und wie haben diese tapferen Inka-Krieger sich gewehrt? So gut wie gar nicht. Denn was der Inka-König sagte, wurde gemacht. War er ein Feigling, waren es seine Offiziere auch, sie hörten bis zuletzt auf sein Wort und sahen zu, wie Atahualpa den Spaniern den gesamten Goldschatz des Landes aushändigte, nur um sein erbärmliches Leben zu retten – was für ein Feigling!
Und es stimmt nicht mal, dass die Spanier militärisch dermassen krass überlegen waren, wie es überall heisst. Individuell pro Soldat natürlich schon, aber nicht als Armee – die Spanier hatten gar keine «Armee», sondern einen aus Sträflingen zusammen gesetzten Haufen, der auf Abenteuer und Gold aus war.
Auch die «überlegene Feuerkraft» der Spanier ist eine Mär, richtig ist vielmehr, dass es ein paar wenige Gewehre für die rund 200 «Konquistadoren» gab, und die meisten Schlachten mit den Inkas wurden gänzlich ohne Feuerwaffen geschlagen. Gekämpft wurde normalerweise vom Pferd herab mit dem Schwert, zudem trugen die Spanier eine Rüstung und waren damit vor Verletzungen besser geschützt.
Das Stahlschwert war den Bronze-Äxten der Inkas natürlich meilenweit überlegen, sowohl punkto Effizienz als auch bezüglich Reichweite vom Pferd hinab. Aber das ist nicht der springende Punkt.
Meine Ueberlegung geht in eine andere Richtung: Waren die Inkas zu naiv, zu wenig taktisch, zu wenig schlau? Wenn ich 100’000 Mann habe und gegen 200 antreten muss, dann fällt mir irgend eine Schlucht oder eine Brücke oder ein Fluss in den Anden ein, wo die 200 Feinde mit ihren Pferden durch müssen, dann kessle ich sie ein und lasse ihre besseren Waffen nutzlos werden. Notfalls verliere ich 5’000 meiner Leute dafür, aber die Eindringlinge sind tot, und 95’000 meiner Leute leben noch und mit ihnen das ganze Volk! Genau das, dieses clevere, entschlossene, auf Leben und Tod ausgerichtete Aufbäumen (wie zum Beispiel bei den alten Eidgenossen bei Morgarten!) hat aber nie stattgefunden.
Es scheint fast, als hätten die Inkas die Fähigkeit nicht besessen, einen (kanalisierbaren) Hass auf die spanischen Eroberer zu entwickeln. Ist es denkbar, dass ihnen ein Wut-Gen gefehlt hat (falls es sowas gibt)? Wieso konnten sie nicht besser zusammen stehen und ihren Kampf taktisch geschickt organisieren? Sie verloren jeweils Schlachten, bei denen sie zu Tausenden gegen eine Handvoll spanischer Ritter antraten. Waren sie zu wenig schlitzohrig? Die paar Spanier hatten nicht nur die Inka-Könige, sondern das ganze Volk im Griff, nutzten und peinigten es nach Belieben. Und trotzdem blieb der grosse Aufstand aus.
Zweifel an der Cleverness dieses Andenvolkes sind also durchaus am Platz. Denn eine gewisse Schlauheit gehört nun mal zu jeder Kultur und vor allem zum Überleben. Jede Raubkatze im Dschungel weiss das. Und der Puma war schliesslich das Idol der Inkas...
Bei Lichte betrachtet, waren die Inkas wohl nicht jene hochentwickelte Zivilisation, wie sie immer dargestellt wird. Sie kannten weder die Schrift noch das Rad, verharrten im Tauschhandel ohne Geld und verfügten nicht mal über ein Metall, mit dem sie ihre Steine behauen konnten – und das im 16. Jahrhundert nach Christus!
Sicher ist aber: Auf dem Gebiet des Steinverarbeitens waren sie absolute Spitzenkönner, und möglicherweise war das ihre wirkliche Stärke. Noch heute kann man sich nicht vorstellen, wie sie es schafften, bis zu 200 Tonnen schwere Felsbrocken so haargenau zu bearbeiten, dass der Nachbarblock auf den Millimeter dazupasste, manchmal mit richtigen Verzahnungen wie beim Holzbau, unglaublich! Nicht nur bei Festungen, auch beim Tempelbau wurden die kompliziertesten Formen von Steinen verwendet, mit bis zu 12 Kanten, und alle passen haargenau. Diese Konstruktionen sind so raffiniert, dass sie allen schweren und schwersten Erdbeben der letzten Jahrhunderte bis heute getrotzt haben, währenddem die von den spanischen Kolonialisten darauf gebauten Kirchen allesamt in sich zusammenfielen.
Könnte es sein, dass die heutigen Bewohner dieser Anden-Region die Antwort auf meine Frage nach dem fehlenden «Wut-Gen» sind? Einiges spricht dafür! Ich habe auf unserer Reise niemanden angetroffen, der meine Empörung über diese verbrecherischen Spanier teilen wollte, die das Inkavolk massakriert und ausgeplündert haben. Offenbar geht man hier leichter damit um und nimmt einfach jenes Leben an, das man gerade vorgesetzt bekommt. So wie man sich mit dem Christentum arrangiert hat und gleichzeitig halt immer noch zum Berg rauf betet und sieht, was Viracocha, der Inka-Schöpfergott, für einen tun könnte.
Nur einmal glaubte ich in unserem Guide einen Ansatz gefunden zu haben, dass auch er es für ungerecht empfindet, dass der Inka-Goldschatz in christliche Altäre umgegossen wurde. Aber kaum waren wir in der Kathedrale von Cuzco drin, da leuchteten seine Augen ob alles des Goldes bis oben zur Decke hin, und er sank auf die Knie und bekreuzigte sich. Nein, nicht die Spur einer Wut auf die Kolonialisten. Langsam beginne ich selbst an meine Theorie vom fehlenden Wut-Gen der Inkas zu glauben...
Fritz Kleisli, Februar 2004