Zum ersten Mal hatte ich von Angkor Wat gehört, als ich 1964 als Küchenjunge zur See fuhr. Mein Ozeanfrachter war damals für ein knappes Jahr mein wackliges Zuhause, und es brachte mich von Antwerpen bis tief in den Fernen Osten nach Rotchina. Als wir im Süden von Bangkok auf dem Weg nach HongKong durch die Meerenge von Malakka (bei Sumatra) fuhren, da vernahm ich zum ersten Mal von dieser legendären Tempelstadt, die «ganz in der Nähe versteckt» sein musste, irgendwo im Dschungel zwischen Burma, Siam und Vietnam...
Schon damals nahm ich mir vor, dieses Weltwunder irgendwann einmal zu erforschen. Dann kam aber der Vietnamkrieg, und als dieser schreckliche Krieg vorbei war, begannen die Roten Khmer in Kambodscha zu wüten, wobei Millionen von Menschen umgebracht wurden. Und so war eine Angkor-Visite während mehr als drei Jahrzehnten kein Thema mehr. Erst vor ein paar Jahren, so um 1997 herum, öffnete sich das Land langsam wieder. Und endlich war die Zeit reif geworden, mir meinen Bubentraum zu erfüllen...
Von Bangkok aus ist es nur einen Katzensprung nach Angkor – etwa eine Stunde Flugzeit in einer modernen kleinen Turbopropellermaschine der Bangkok Airways. Wir fliegen relativ niedrig, die Landschaft unter uns ist trostlos und langweilig: flaches, feuchtes Buschland, wild gewachsen, hie und da ein paar Reisfelder, die natürlich unter Wasser stehen, überhaupt scheint das ganze Land permament überschwemmt zu sein. Eine endlose Weite von Nichts – und hier soll jemand auf die Idee gekommen sein, die grössten Tempelanlagen der Welt hinzustellen? Nur schwer begreif- und fassbar...
Zum Tempelgelände führt eine breite Asphaltstrasse durch das Städtchen Siem Reap (von wegen Urwald!), und an einer autobahnähnlichen Mautstelle muss zuerst mal ein Dreitages-Eintrittspass gelöst werden (40 US-Dollar, inklusive Passfoto, kambodschanisches Geld braucht man keins, Dollar sind hier übliches Zahlungsmittel). Damit ist man im Tempelgelände drin. Jetzt aber steigt die Spannung. Gleich werden irgendwo die ersten Tempel auftauchen...
Und tatsächlich. Hoch über den Baumwipfeln tauchen sie in der Ferne auf, die ersten Türme, die man von den Fotos her kennt. Das erste Ziel ist natürlich Angkor Wat. Eigentlich hatte ich nur immer diesen einen Namen im Kopf, und erst jetzt wird mir bewusst, dass Angkor Wat nur ein kleiner Teil der gesamten Tempelanlage ist. Er ist weder der älteste noch der attraktivste Bau – Angkor Thom ist viel beeindruckender!), aber Angkor Wat ist so berühmt, weil er der bestrestaurierte und damit der besterhaltene ist. Er stammt aus dem 12. Jahrhundert n.Chr. (die ältesten Teile Angkors dagegen sind wesentlich älter und wurden schon im 9. Jahrhundert erbaut, wie z.B. der Hügeltempel Bakheng).
Alle Tempelanlagen von Angkor versanken während Jahrhunderten im Dschungel und wurden von der Natur total überwuchert. So um 1860/63 herum wurde Angkor Wat «wiederentdeckt» (was an sich nicht ganz korrekt ist, denn der Tempel, der ursprünglich dem Hindugott Vishnu geweiht war, war bei den Einheimischen nie komplett in Vergessenheit geraten und wurde auch von buddhistischen Mönchen benutzt). «Wiederentdeckt» stimmt deshalb nur bezüglich der Europäer. Es war ein Franzose (Henri Mouhot), der um 1863 einen sensationellen Artikel in englischen und französischen Zeitungen über diese Urwaldtempel schrieb, was in Europa ein gewaltiges Interesse verursachte. Die Freilegung der Angkortempel verdankt man einer an sich wenig erfreulichen Erscheinung, dem Kolonialismus.
Die Franzosen hatten im 19. Jahrhundert eine starke Hand auf Kambodscha gelegt (und einige der kostbarsten Tempelfragmente nach Europa entführt, so wie kurz vorher Napoleon ganze Obelisken aus Aegypten abgeschleppt hatte, die heute noch die französische Hauptstadt Paris zieren...). Immerhin muss man den Franzosen heute zugute halten, dass sie diese gewaltigen Bauwerke vom Dschungel befreiten, restaurierten und schliesslich ihren rechtmässigen Besitzern, den kambodschanischen Khmers, als wertvolle Touristenattraktion «zurückgaben». Das ist die andere Seite des sonst so ausbeuterischen Kolonialismus – ohne ihn würde man heute nur noch ein paar Mauerreste und wild überwucherte Hügel vorfinden, unter denen diese Zeugen einer unfassbaren Hochkultur verrotten würden. Nun stehen sie aber noch und werfen unwillkürlich die Frage auf, wie es möglich war, in diesem «Niemandsland» so etwas Gewaltiges entstehen zu lassen.
...in diesem Dschungel solche Kunstwerke zu erbauen? Die Frage stellt sich umso mehr, als die Menschen damals noch in primitivsten Hütten lebten, von denen rein gar nichts übrig geblieben ist, auch nicht der Königspalast (der war auch aus Holz). Und ausser der Reisproduktion gab es keinerlei Einnahmenquellen. Nun ging da also jemand ans Werk, um sich und seiner Gottheit etwas dermassen Überwältigendes zu errichten!
Der Auftraggeber des Angkor Wat war der König Suryavarmann II (1113-1150), und er war ein Anhänger des Hindugottes Vishnu. Woher aber nahm er all diese tausenden von Arbeiter, um das Baumaterial heranzuschleppen und die Tempel zu erstellen? Die Erklärung hat damit zu tun, dass es in dieser Zeitepoche gelungen war, die Reisproduktion so erfolgreich zu steigern, dass mit dem erzielten Gewinn Armeen von Soldaten und Arbeiter unterhalten werden konnten. Grundlage für die erfolgreiche Reisproduktion bildeten riesige künstliche Wasserbecken, dank derer die Reisfelder ganzjährig regelmässig bewässert werden konnten, was mehrere Ernten pro Jahr möglich machte.
Die Tempelanlagen sind alle nach einem gleichbleibenden Grundmuster errichtet: Rundherum ein Wasserbecken mit Doppelfunktion (Schutz vor Feinden und Wasser für die Reisfelder), dann Steinwälle, dahinter viel Platz für die Häuser der Menschen, und in der Mitte der eigentliche Tempel. Neben dieser praktischen Seite erfüllte dieser Aufbau auch einen göttlichen Auftrag: die Wasserbecken verkörpern nach hinduistischer Darstellung das Urmeer, das alles umgibt. Die Steinwälle stellen die Bergketten dar, und der Turm im Zentrum den berühmten Berg «Meru», auf dem die Götter wohnen. Da der König sich als Gottkönig verstand, war es nicht mehr als logisch, dass er als Lebender die Tempelanlage seinem Lieblingsgott weihte (bei den Hindus kann sich ja jeder seinen eigenen Gott aussuchen, und Suryvarmann II hatte sich für Vishnu entschieden). Nach seinem Tod war der Tempel gleichzeitig seine Grabstätte, und damit war er dann definitiv mit seinem Gott verbunden.
Schon von ausserhalb gucken die Gesichter weise und gelassen lächelnd auf die Menschen herab, die neben ihnen winzig klein und nichtig erscheinen. Lange hatte man angenommen, dass diese Gesichter einen Hindugott darstellen (z.B. Brahma, den Schöpfer der Welt, oder Shiva, den Zerstörer und Wiederaufbauer), aber dann fand man 1924 eine buddhistische Figur im Tempel, die mit den Gesichtern in Verbindung gebracht werden konnte. Seither nimmt man an, dass es sich um einen Bodhisattva handelt – so nennt man ein buddhistisches Wesen, das die höchste Stufe auf dem Weg zur Erleuchtung erreicht hat und damit eigentlich ins wunschlos glücklich machende Nirvana eintreten könnte - was ja das Ziel der Buddhisten ist. Ein Boddhisattva aber will diesen Schritt noch nicht vollziehen und bei den Menschen bleiben, um ihnen bei der Suche nach der ewigen Glückseligkeit zu helfen. Wenn man die feinen Züge der Gesichter anschaut, die allesamt dieses weise Lächeln auf den Lippen haben, ist man versucht, dieser Darstellung zu glauben...
Im Osten von Angkor Thom liegt die besonders eindrucksvolle Tempelstadt Ta Prohm, die die Archäologen der «Ecole Française d’Extrème Orient» genau sobelassen haben, wie man sie bei der «Wiederentdeckung» um 1863 angetroffen hatte, nämlich vollkommen überwuchert von mächtigen Wurzelbäumen, die die Stadt fest im Griff haben (Würgefeigen heissen die Bäume, was für ein passender Name!). Einerseits zerdrücken und zermalmen die gewaltigen Fangarme alle Bauwerke, anderseits stabilisieren sie die Ruinen auch wieder. Würde man die Wurzeln entfernen, so bräche alles endgültig in sich zusammen. So aber ist eine wahre Symbiose von Architektur und Natur entstanden, wirklich beeindruckend – und hier kommt jetzt das Dschungel- und Abenteuergefühl tatsächlich auf. Auch wenn man Abends dann wieder ins klimatisierte Hotel zurückkehren darf. Das war bei den weissen Entdeckern Mitte des 19. Jahrhunderts noch anders. Die mussten sich echt im Dschungel beweisen und sind reihenweise gestorben, an Erschöpfung, an Malaria, an Thyphus. Sogar Tiger gab es damals noch und Krokodile sowieso.... es lebe der gefahrlose heutige Tourismus!
Fritz Kleisli, März 2001