>Fotogalerie Jaroslavl-Leningrad
Die während des Kalten Krieges tobende Propagandaschlacht zwischen der UdSSR und uns Westlern muss auch bei mir Spuren hinterlassen haben. Anders ist es nicht zu erklären, dass Begriffe wie Kreml oder Roter Platz auch bei mir mit starken Negativgefühlen belegt waren. Geschah es denn nicht im Kreml, als dieser furchterregende Stalin Millionen von Menschen nach Sibirien und in den Tod schickte? Geschah es denn nicht auf dem Roten Platz, wo die mächtige Rote Armee mit Panzern und Atomraketen den Westen bedrohte? Kein Wunder, dass ich mich lange Jahre davor scheute, an diesen «Ort des Bösen» zu reisen. Erst jetzt, nach der Auflösung der UdSSR, siegte die Neugier über die Furcht.
Zwischen Zürich und Moskau liegen nur rund drei Stunden Flugzeit – ein Katzensprung. Die ersten Eindrücke bestätigten die Vorurteile, die ich von dieser Stadt hatte: Die abweisend dunkle, ungepflegte Flughafen-Empfangshalle (an der Decke ein «Kunstwerk» aus einer unüberblickbaren Ansammlung von aneinandergeschweissten hässlichen Kupferrohrstücken, die von Granaten zu stammen scheinen und den Raum so richtig trostlos düster machen), chaotisches Schlangenstehen vor den Kontrollstellen mit stummen, unfreundlichen und grimmig blickenden Zollbeamten, schikanöser Papierkram, dessen Sinn niemand erkennen kann.
Raus aus dem Flughafen in einen vergammelten Bus Baujahr 1960 oder so und endlich ab in Richtung Stadt. Unterwegs die an Hässlichkeit nicht mehr zu überbietenden Wohnblöcke, die zur Sowjetzeit massenhaft erstellt wurden, um die Menschen irgendwie unterzubringen – in Batteriehaltung und gut kontrollierbar eben. Bis hierher stimmte also das Bild, das ich von Moskau «schon immer» hatte...
Mit Hotels kamen wir nicht in Kontakt, denn wir wurden ja im Flusshafen an der Moskva von unserem Schiff erwartet, das uns dann im Verlaufe unserer Reise über verschiedene Flüsse, Kanäle und Seen nach St.Petersburg bringen sollte. Zur Flussreise später mehr.
Der erste Tag in Moskau war voller Überraschungen. Natürlich wollten wir als allererstes den Kreml und den Roten Platz sehen, was denn sonst! Schliesslich sieht man in allen Fernsehreports doch immer diesen Typen mit Mikrophon vor der Kremlmauer stehen und der verkündet von dort stets die Schreckensmeldungen über explodierte Atomkraftwerke, über Putin, der den Krieg in Tschetschenien gut findet und über gesunkene U-Boote. Ein böser Ort vor dieser Kremlmauer!
Aber welche Überraschung: Da stehen wir nun auf dem Roten Platz und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein riesiger, offener Platz, gepflegtes, kunstvoll eingelegtes Pflaster, rundum die herrlichsten Bauten, geschichtsträchtige Kirchen, jede Menge Türme mit Zwiebelkuppeln, die berühmte Basilius-Kathedrale und gegenüber der Kremlmauer dieser Prachtsbau, der keineswegs ein Regierungsgebäude ist, sondern ein über 100jähriges Kaufhaus, das GUM. Die Verkaufsläden sind auf drei Etagen in Galerien angeordnet und über Jungendstilbrücken zu erreichen. Eines der schönsten Kaufhäuser, die ich je gesehen habe! Es hat nur einen Nachteil: die Waren, die hier angeboten werden, sind fast unerschwinglich. Und damit meine ich nicht nur für den Normalrussen, sondern auch für uns normalverdienenden Westler. Italienische Topschuhe für 350 Dollars oder französische Designermode – alles zu haben. Früher, zu Sowjetzeiten, war das GUM (was für «Staatliches Universal Magazin» steht) mal jener Einkaufsort, in dem die Russen die in der Planwirtschaft produzierten Güter kaufen konnten. Man stand stundenlang Schlange, um irgendetwas zu erstehen, egal, was es war. Tauschen konnte man dann später immer noch, Hauptsache, man bekam für die Rubel was Handfestes.
Nun aber zurück zu den Überraschungen. Die beginnen schon damit, dass das Wort «Kreml» rein gar nichts mit der bösen Sowjetmacht zu tun hat, sondern schlicht und einfach Burg oder Befestigung heisst. Was bedeutet, dass fast jedes Städtchen in ganz Russland einen Kreml hat, und dies schon seit Jahrhunderten...
Mit dem «Roten Platz» ist es das selbe. Der heisst schon seit dem 16. Jahrhundert so und hat damit weder mit der Oktoberrevolution 1917 noch mit der Roten Armee noch mit dem Kommunismus etwas zu tun! Denn eigentlich heisst der Platz «schöner Platz». Früher gab es nämlich für die Begriffe «rot» und «schön» nur einen russischen Ausdruck, krasnaja. Für diesen Prachtsplatz ist schön viel passender als rot, aber als Politkommisär der Sowjetunion hätte ich ihn natürlich auch rot genannt, kann man ja verstehen.
Es kommt aber noch besser: Im Kreml drin, das heisst also hinter der Mauer, die man am Fernsehen immer nur von aussen in ihrer abweisenden und bösen Form sieht, da verbergen sich die prächtigsten Wunderwerke russischer Baukunst. Kirchen und Kathedralen mit langer Geschichte, dazu überwältigende Paläste und Gemächer, die vom Prunk der Zarenzeit zeugen. Architektonische Meisterleistungen von eindrücklicher Schönheit, die heute zum Teil von der Regierung und zum Teil als Museen benutzt werden.
Fazit: Langsam aber sicher verloren die Begriffe Kreml und Roter Platz ihre respekteinflössenden Bedeutungen...
Das nächste Staunen folgte dann bei den Erkundungsfahrten durch Moskau. In der ganzen Stadt – die immerhin rund 10 Millionen Einwohner hat! – fanden wir nur saubere Strassen. Kaum ein Papierfetzchen auf den Trottoirs, und das nicht nur im Stadtkern, sondern auch in den Aussenbezirken. Wehmütig dachten wir an die Zeiten, als das in Zürich auch mal so war...
Allerdings wirkt die Mehrheit der Gebäude und der Strassen weniger gepflegt als in westlichen Städten. Viele der Autos und die öffentlichen Busse sind alt und in schlechtem Zustand, die teuren BMWs und Mercedes der «neuen Russen» (wie die Neureichen hier genannt werden) fallen immer noch als Einzelstücke auf. Auch wenn die Strassen sauber geputzt sind, so wirkt das Stadtbild doch irgendwie ärmlich. Blumen finden sich selten, Bäume nur in Parks (von denen es allerdings viele und ausgedehnte, grosszügig angelegte gibt).
Ein Erlebnis der besonderen Art ist der Besuch des Moskauer Untergrunds, der Metro. Viele Stationen sind echte bauliche Kunstwerke mit Stukkaturen an der Decke und stilvollen bis kitschigen Leuchtern. Die Metro ist nicht nur extrem preisgünstig – für 5 Rubel, das sind etwa 30 Rappen, kann man sie einen ganzen Tag lang benutzen – sondern auch äusserst leistungsfähig. Die Züge kommen alle zwei, drei Minuten und sind sehr schnell. Gewöhnungsbedürftig ist die Art der Russen, mit Hilfe der Ellbögen ein- und auszusteigen. Die angeblich so geduldigen Menschen werden, sobald es ums Schlange stehen geht, ziemlich hektisch, egoistisch und chaotisch - lässt man eine Lücke offen, schlüpfen sie sofort rein, das ist aber normal und verursacht weder böse Worte noch Kopfschütteln.
Den Rentnern geht es nicht besonders. Sie müssen sich etwas einfallen lassen, um noch ein paar Rubel dazuzuverdienen. Sie tun das, indem sie auf dem schwarzen Markt neben dem Shoppingcenter irgendwelche Dinge zum Verkauf anbieten. Zum Beispiel Pilze, die sie im Wald gesammelt haben, oder Blumen, oder ein paar selbstgefangene einzelne Fische. Natürlich sind die Schwarzmärkte im Prinzip verboten, aber Verbote haben in Russland keine grosse Abschreckung, da setzt man sich einfach drüber hinweg. Und wenn die Polizei auftaucht, packt man seine Siebensachen kurz weg und stellt sich wieder hin, wenn die Patrouille vorbeigezogen ist. Auch hatten wir den Eindruck, dass die Polizei selbst auch nicht gerade übermotiviert ist und bei diesem Spielchen mal ein Auge oder auch beide zudrückt. Schliesslich kennt man ja die Not, die herrscht.
Einige pfiffige Renter haben nun den Tourismus entdeckt, sie arbeiten dann – natürlich auch schwarz – irgendwo in der Nähe von Museen oder sonstigen Sehenswürdigkeiten und bieten Führungen an. Auf dem 100-jährigen Panzerkreuzer Aurora, der heute als Denkmal und Museum fest im Hafen von St.Petersburg verankert ist, trafen wir einen solchen Veteranen. Er bot uns erst Informationen an und verkaufte uns dann eine alte Broschüre, die noch aus Sowjetzeiten stammte (der Text verherrlichte in überschwenglichen Worten die Errungenschaften der Grossen Revolution von 1917 und enthielt einige Infos über den Panzerkreuzer, der bei der Oktoberrevolution eine wichtige Rolle gespielt hat). Er erklärte uns, dass die Broschüre gratis sei, aber wenn man etwas spenden wolle, dann werde der Betrag «für die Restauration des alten Kreuzers» verwendet. Natürlich spendeten wir. So einen alten Kreuzer muss man doch unterstützen...
Von Moskau aus gings auf dem Moskva-Wolga-Kanal in nördlicher Richtung weiter. Unser mittelgrosses Passagierschiff (die MS Alexej Surkov) mit ca. 200 Gästen und rund 100 Mann Besatzung musste dabei an die 20 Schleusen durchlaufen, weil unterwegs auch der Rybinsker Stausee zu durchqueren war, der deutlich höher liegt. In ihm staut sich die Wolga, die ein paarhundert Kilometer nordwestlich von Moskau entspringt und nach 3700 Kilometern im Kaspischen Meer endet. Im Rybinsker Stausee, der der Energiegewinnung dient, sind an die 700 Dörfer ertränkt worden, manchmal ragt noch ein einzelner Kirchturm aus dem Wasser.
Auf unserer Fahrt in den Norden gab es immer wieder Landgänge, an Orten, deren Namen wir nie zuvor gehört hatten: Uglitsch, Jaroslavl, Goritzy, Kishi. Uglitsch ist tiefste Provinz (da schlägt die Armut noch deutlicher durch). Jaroslavl hat immerhin 750’000 Einwohner und Industrie (uns zeigte man Kirchen, Parks und Folklore – mehr Zeit war auch nicht), in Goritzy brilliert ein eindrückliches Kloster (es soll das grösste von ganz Russland sein) mit den ältesten Ikonen des Landes, und in Kishi (das war dann bereits im nördlichsten Teil des Onega-Sees) steht auf einer kleinen Insel eine der schönsten Kirchen der Welt, die sich nur im Bild erklären lässt. Sie hat 22 silbern schimmernde Holzkuppeln und steht schon seit 186 Jahren dort – die Unesco hat sie zum «Weltkulturerbe der Menschheit» erklärt.
Anschliessend gings weiter zum grössten See Europas, den Ladogasee, der im Norden fast an Finnland grenzt und im Südwesten bei St.Petersburg endet. Er ist so unglaublich gross, dass man das Gefühl hat, auf dem Meer zu sein, man sieht kaum je das Ufer, nur den weiten Horizont. «Unser» Bodensee ist dagegen eine Pfütze: Der Ladogasee umfasst 18’000 km2, das ist knapp die Hälfte der ganzen Schweiz!
Die Flussreise auf der MS Surkov war ein Erlebnis für sich. Ruhiges Dahingleiten auf Flüssen und Seen, die vorbeiziehende Landschaft bewundern (Birkenwälder, endlose Weite, da und dort mal ein Lebenzeichen, ein paar Datschas am Ufer, totale Ruhe...). Der Besatzung zuschauen, wie sie durch die Schleusen manövriert, Relaxen und Lesen auf dem Sonnendeck, mal am Vodka nippen, was für ein Leben!
Auch für Unterhaltung und Bildung war gesorgt, eine Bordband spielte zum Tanz auf, wer wollte, konnte am Russischkurs teilnehmen (natürlich wollten wir! und nicht nur das, unsere Gruppe lernte und probte sogar ein paar russische Volkslieder, die wir dann in der Gästeshow zum besten gaben!). Es gab auch Vorträge über die Zarenfamilie der Romanovs bis hin zur russischen Küche und die Kunst der Ikonenmalerei. Die Tage auf dem Schiff vergingen wie im Flug, und dann kamen wir nach
Die Stadt ist rund 300 Jahre alt. Sie wurde 1703 von Zar Peter dem Grossen gegründet, besser gesagt, aus dem Boden gestampft, oder noch genauer: auf Sumpf aufgebaut. Heute zählt sie an die fünf Millionen Einwohner und ist damit nach Moskau die zweitgrösste Stadt Russlands. Die Oktober-Revolution 1917, die Russland siebzig Jahre Kommunismus bescherte, nahm ihren Anfang in St.Petersburg, als Lenins Bolschewiken die letzte Zarenfamilie gefangennahmen und umbrachten (Zar Nikolaus II).
Im zweiten Weltkrieg musste St.Petersburg bös unten durch und wurde von den Nazis 1941 bis 1944 während 900 Tagen belagert, beschossen und ausgehungert. Von dieser Zeit hat sie sich bis heute noch nicht ganz erholt. Obwohl St.Petersburg in jeder Reisebroschüre in höchsten Tönen als schönste Stadt Europas gelobt wird, wirkt sie irgendwie ärmlich und zerlumpt, sobald man einen Blick hinter die Kulissen wagt. Die Strassen ausserhalb des Kulturzentrums sind mit Löchern übersät, die Klappertrams fallen fast auseinander und fahren auf den krummsten und ausgeleiertsten Schienen, die man sich nur vorstellen kann. Viele Wohnblöcke in den Aussenquartieren sind in einem jämmerlichen Zustand. Verschliesst man aber davor die Augen und konzentriert sich auf «das schöne Sankt Petersburg», dann regiert der Prunk.
Prachtsbauten und architektonische Meisterleistungen in Hülle und Fülle, eindrückliche Kirchen und Kathedralen mit goldenen Kuppeln und Millionenwerten im Innern, goldüberladene Zarenpaläste von ebenso unermesslichem wie sinnlosem Reichtum. Einige der gewaltigen Zarenpaläste im Zentrum der Stadt sind heute Museen, andere, in der näheren Umgebung, wie der Peterhof oder das Zarendorf «Zarskoje Selo» dienen der Bewunderung des unbeschreiblichen Reichtums, den die Zaren auf Kosten der einfachen Bevölkerung aufgehäuft hatten. Heute werden diese Paläste mit viel Aufwand restauriert – natürlich wieder mit dem Geld der Normalbürger. Geld, das für dringende Ausgaben fehlt... Aber angeblich zahlen die Sankt Petersburger das alles mit Stolz und Freude, und sie wollen es so (sagte unsere Reiseführerin). Man mag es glauben – oder auch nicht.
Übrigens: Die Stadt wurde kurz nach der Revolution in Petrograd umgetauft, nach dem Tod Lenins 1924 hiess sie dann bis 1991 Leningrad, und in einer Volksabstimmung 1991 (es waren die ersten demokratischen Wahlen in der Geschichte Russlands, Jelzin wurde dabei zum ersten Präsidenten gewählt) wurde beschlossen, die Stadt wieder Sankt Petersburg zu nennen. Die Entscheidung fiel allerdings denkbar knapp aus, nur gerade 51% waren für die Umbenennung, 49% stimmten für Leningrad. Und da nur die Stadtbürger für die Namensänderung waren, der umgebende «Kanton» aber dagegen stimmte, heisst heute der Kanton immer noch Leningrad...
Wie kam es denn, dass St.Petersburg über dermassen viele Prachtsbauten verfügt, dass selbst ein Paris daneben verblasst?
Es ist das Werk der berühmtesten Zarendynastie, der Romanovs. Nach Peter dem Grossen, der nicht nur den Grundstein legte, sondern auch alles daran setzte, dass die Stadt wuchs und mit prächtigen Bauten ausgestattet wurde (jedes Schiff und jeder Wagen, der in die Stadt wollte, war verpflichtet, neben seiner Ladung auch eine bestimmte Menge von Baumaterial und Steinen mitzuführen, sonst wurde der Eintritt verweigert – keine schlechte Idee!). Seine Nachfolger und Nachfolgerinnen (zum Beispiel auch Katharina die Grosse) liessen es sich nicht nehmen, die Bauten weiter zu vergrössern und zu verschönern, sie bestellten die berühmtesten Architekten aus ganz Europa und holten auch die besten Leute vom französischen Hof, um sich in Petersburg Parks und Villen im Stile Versailles zu errichten. So kam ein Prunkbau zum anderen, und im Laufe von zwei Jahrhunderten hatte sich die aus dem Sumpf entstandene Stadt zu einem Juwel unter den europäischen Zentren entwickelt.
Gestoppt wurde das Ganze eigentlich erst durch die Grosse Revolution und durch die Vernichtung des Zarentums. Danach kamen über 70 Jahre des Kommunismus, in dem Prunk verpönt war und offen bekämpft wurde (mehrere Kathedralen wurden unter den Kommunisten dem Erdboden gleich gemacht, einige davon mussten sogar weichen, um Platz zu schaffen für neue Lenin-Denkmäler, von denen es über dreihundert gibt!
Noch heute erkennt man, wie der Sowjetapparat gewütet hat: Prachtvoll geschmiedete Zäune von grossen Villenvierteln wurden abmontiert, um diese Kunstwerke zu Eisenbahnschienen (oder was auch immer) umzugiessen – als stumme Zeugen stehen heute noch die gemauerten Eckpfeiler, denen man die Eisengitter entrissen hat. Und nun versucht die Stadt mit grossem Aufwand, die Lücken wieder zu schliessen, indem man mühsam Kopien dieser Schmiedekunstwerke erstellt und wieder neu montiert. Man beginnt, die Wunden zu heilen, die 70 Jahre Kommunismus hinterlassen haben.
Am einfachsten geht das an den Gebäuden, die lassen sich relativ leicht renovieren. Bis zur 300-Jahr-Feier im Jahre 2003 dürfte die Stadt noch ein gutes Stück herausgeputzter auftreten als heute, will heissen: noch mehr imperiale Prachtsgebäude werden mit dicker Farbe aufgemotzt, um bei den Touristen Eindruck zu schinden. Und, da bin ich mir ganz sicher, die Touris werden das schlucken und mit ihren aahs und oohs quittieren.
Weniger leicht lassen sich die Wunden heilen, die man den Menschen in den letzten 70 Jahren zugefügt hat. Da in der UdSSR alles rundum geregelt war, haben die Leute nie gelernt, mit der Selbstverantwortung umzugehen, sie können weder mit der Demokratie noch mit den Gesetzen des freien Marktes etwas anfangen – und warten deshalb immer noch träge und untätig, bis ihnen jemand wieder alles regelt. Jelzin schaffte das nicht, Putin hiess die neue Hoffnung, inzwischen geht vielen ein Licht auf, dass der auch nicht viel ändern wird.
Jene wenigen, die das neue kapitalistische System begriffen haben, wurden in Rekordzeit zur neuen Herrschaftsschicht. Die «neuen Russen» lassen sich jetzt dort nieder, wo früher die Zaren residierten (Zarskoje Selo, etwa 30 km von Sankt Petersburg auf einer Anhöhe im Grünen gelegen, das «in»-Städtchen dort heisst Pushkin). Sie zeigen ihren Reichtum hemmungslos und lassen die Bevölkerung an ihrem Erfolg teilhaben, indem sie in ihren Luxusvillen Arbeitsplätze für Putzfrauen schaffen. 70 Jahre lang ging es allen gleich schlecht (mal abgesehen von den Parteibonzen...), jetzt endlich gibt es wieder Superreiche und Superarme. Wie im richtigen Leben halt.
Fritz Kleisli, August 2000