Glücksvögel nennt man die Kraniche schon seit Jahrtausenden. Ob sie Glück bringen, weiss niemand so genau, aber «Glücksvögel» sind sie allemal. Denn die Tiere haben das Glück, dass ihnen die Menschen so wohlgesinnt sind...
Jeden Herbst pilgern Heerscharen von Naturfreunden nach Mecklenburg-Vorpommern und an die Ostsee, um ein jährlich wiederkehrendes Spektakel zu beobachten: Im Oktober legen nämlich 40- bis 70‘000 Kraniche auf ihrer Reise von Skandinavien nach Südeuropa hier eine mehrwöchige Rast ein, um neue Energie für ihren Weiterflug zu tanken. Sprich: Sich vollzufressen. Tagsüber sind sie deshalb auf den Feldern des Festlandes zu beobachten, und jeden Abend fliegen sie zu ihren Schlafplätzen bei der Insel Zingst zurück. Zu Tausenden bevölkern sie dabei den Abendhimmel, kreischend und trompetend – ein wahrhaft eindrückliches Erlebnis, dem die Menschen gebannt und ehrfürchtig zuschauen und lauschen.
Für ihre Schlafplätze suchen sich die Kraniche seichtes Wasser aus, idealerweise 10-40 cm tief. Dort, durch das Wasser vor Feinden geschützt, schlafen sie dann stehend, Leib an Leib, und warten auf den nächsten frühen Morgen, um wieder an ihre Fressplätze zurückzukehren.
Apropos Fressplätze: Bevorzugte Gebiete sind natürlich frisch angesäte Felder. Ein einzelner Kranich vertilgt dabei pro Tag 200-300 Gramm Getreide, rechne! Bei durchschnittlich 50‘000 Tieren macht das 10-15 Tonnen Saatgut, die den Bauern buchstäblich weggefressen würden, pro Tag, wohlverstanden. Klar, dass das so nicht geht. Wer würde es den Landwirten verübeln, dass sie sich wehren und die Vögel abschiessen oder mindestens vertreiben.
Um das zu verhindern, wurden die Bauern eine Zeit lang vom Staat entschädigt. Heute nicht mehr, dafür lockt man die Vögel mit Ablenkfütterungen auf gerade abgeerntete Maisfelder, die noch kein Saatgut enthalten. «Man», das ist die Organisation Kranichschutz Deutschland, die sich mit staatlichen und privaten Mitteln finanziert und auch von namhaften Firmen wie die Lufthansa gesponsort wird. Und natürlich hat auch das Land Mecklenburg-Vorpommern schon längst gemerkt, dass die Kraniche Jahr für Jahr eine Unmenge von Touristen anlocken. So geht die Rechnung für die Menschen und die Kraniche auf. Jedenfalls müssen sich die Tiere nicht mehr vor den Menschen fürchten und können sich prächtig entwickeln. Glücksvögel!
Auch in ihren Lebensräumen in Skandinavien, Südfrankreich und Spanien haben die Kraniche ihre Lobby, auch dort werden sie nicht nur geschützt, sondern teilweise auch gefüttert, um sie für den Tourismus der Naturfreunde nutzbar zu machen.
Wohin fliegen sie denn? Die warme Saison verbringen sie in Skandinavien. Im Herbst zieht es sie dann nach Südfrankreich, Spanien oder nach Nordafrika. In Norddeutschland machen sie nur Rast, um «aufzutanken». Das dauert zwei, drei Wochen, dann fliegen sie in Etappen von 50 bis 100 Kilometern weiter. Man hat aber auch schon beobachtet, dass sie eine Strecke von 2‘000 km am Stück geflogen sind. Im März geht dann die Reise in umgekehrter Richtung, sodass jeder Vogel pro Jahr zwischen 6‘000 und 10‘000 Kilometern zurücklegt.
Es gibt weltweit mehr als ein Dutzend verschiedener Kranicharten. Im vorliegenden Bericht handelt es sich um den Grauen Kranich, der lateinisch «Grus Grus» heisst.
Er erreicht eine Körperhöhe von bis zu 1.25 m und eine Flügelspannweite bis 2.30 m. Er wiegt im Schnitt 5-7 Kilo, was für einen Vogel schon sehr beachtlich ist.
Kraniche können 25 Jahre alt werden, in Zoos sogar 40 Jahre.
Die Grauen Kraniche sind extrem scheue Tiere. Sie haben sich auch in all den Jahren kaum an den ihnen so gut gesinnten Menschen gewöhnt. Ihre Fluchtdistanz ist enorm – rund 300 Meter! Sie «akzeptieren» zwar Autos, die der Autobahn entlang rasen, aber wenn jemand auf dem Pannenstreifen parkiert und aus dem Wagen steigt, dann fliegen sie panikartig davon.
Auch sonst sind sie sehr ängstlich und wenig selbstbewusst, obwohl sie gross und stark sind und über kräftige Schnäbel verfügen. Eine beobachtete Szene als Beispiel: Da ist ein Verband von 500 Vögeln auf einem Maisfeld am Fressen, und in der Ferne taucht ein einzelner Seeadler auf. Panik ergreift die gesamte Truppe, die chaotisch kreuz und quer durcheinander und davon fliegt. Dabei hätte der Adler nicht den Hauch einer Chance, an die Kraniche ran zu kommen, wenn sie zusammenstünden und einen Wall von nach oben gerichteten Schnäbeln bilden würden. Nicht ihr Ding. Lieber schreien und kopflos türmen. Für den «Vogel der Weisheit», wie er auch noch gerne genannt wird, nicht besonders würdig...
Dafür sind die Kraniche im Flug absolut beeindruckend. Mit ihrem langen Hals und den nach hinten gestreckten Beinen gehören sie zum Elegantesten, was der Himmel zu bieten hat. Eine echte Augenweide!
Wer mehr über die Grus Grus wissen möchte, der findet viel Interessantes auf der Website www.kraniche.de und natürlich auch vor Ort im Kranich-Informationszentrum und Museum in
D-18445 Gross Mohrdorf.
Fritz Kleisli
Oktober 2008